Hallo, mein Name ist Lyora. Ich bin siebzehn Jahre alt und wohne in Genf.
Für mich ist Kunst die Vermittlung von etwas Wichtigem, das uns umgibt.
Heute habe ich eine Verabredung mit einem Werk von Frédéric Post auf dem Place de Montbrillant in Genf.
Kommt ihr auch mit?
Dort bin ich in der Rue des Grottes und kenne mich überhaupt nicht aus, aber ich weiss, dass es links den Place de Montbrillant gibt. Ich nähere mich langsam einem Platz und sehe an der Wand ... zuerst kleine Punkte. Nur kleine Punkte. Und es ist sehr gross. Und weil das Werk so gross ist, muss ich ein bisschen zurücktreten, weil ich es nicht so gut sehen kann.
Es ist ein sehr belebtes Viertel und es gibt einen Bahnhof. Aber hier sehe ich besser. Aber was ich am meisten sehe, ist ein altes Gebäude. Ich habe das Gefühl, dass es nicht in die Schweiz gehört; es sieht aus wie ein Haus in Italien. Es gibt zwei grosse Fassaden an diesem Gebäude, das in der Schweiz nicht unüblich ist. Und auf den beiden grossen Fassaden ist auf der einen Seite der Kopf eines Panthers und auf der anderen Seite eine lange, verdrehte Schlange. Und es gibt eine weitere Neonröhre, die die beiden Fassaden mit einer Art Raute verbindet, die kleiner oder grösser zu werden scheint. Es ist wie eine optische Täuschung.
Ich sehe dieses Werk bei Tageslicht, daher sehe ich die Neonröhren selbst nicht. Es ist sehr grau, abgesehen von den Tags. Da es so gross ist, habe ich das Gefühl, dass man sich sofort angezogen fühlt. Ich weiss nicht, wie es anderen Leuten geht, aber ich weiss, dass mir etwas Grosses sofort ins Auge fällt, vor allem, wenn es viel Licht hat.
Die beiden Tiere könnte man als gefährlich oder auf jeden Fall als wild bezeichnen. Sie strahlen eine Art Stärke aus.
Ich lese den Steckbrief: Das Werk heisst "Pinta cura" von Frédéric Post. Es wurde im Jahr 2016 geschaffen. Es gibt zehntausend farbige Glühbirnen! Und ja, es ist sehr gross!
Das Gebäude erinnert mich an Italien und der Name auch. "Pinta cura", "cura", wie etwas, das gut tut, das heilt... dabei sind es doch Tiere, die nicht heilen. Sie sind sogar ziemlich gefährlich! Ich weiss nicht, ob das ein zweischneidiges Schwert ist.
So, das ist der Moment, in dem ich dem Künstler Fragen stelle.
LYORAPinta cura", in welcher Sprache ist das? Und gibt es eine Verbindung zur Pflege, zu etwas, das pflegt, das gut tut?
FRÉDÉRIC POST: Hallo, Lyora. Vielen Dank für dein Interesse an "Pinta cura". Ich werde versuchen, deine Fragen zu beantworten.
Dieser Titel ist auf Spanisch. Aber es sind vor allem Wörter, die ich oft bei Ayahuasca-Zeremonien gehört habe. Ayahuasca ist ein Getränk, das aus verschiedenen Pflanzen hergestellt wird. Es ist eine traditionelle Medizin, die man in Südamerika findet und die weit gereist ist. Heute kann man sie auch in Begleitung von Schamanen trinken, und zwar überall auf der Welt.
"Pinta" bedeutet die Vision oder die Visionen. "cura" bedeutet die Heilung, die Pflege. Man könnte es mit "die Vision, die heilt" übersetzen.
LYORA: Ich habe mich auch gefragt, ob es eine besondere Verbindung zwischen den beiden Tieren gibt.
FRÉDÉRIC POST: Der Jaguar und die Anakonda sind Tiere, die man im Amazonasgebiet im Wald findet. Es sind mächtige Tiere. Der Jaguar ist vielleicht das stärkste Raubtier. Im Schamanismus kann seine Kraft bei der Bekämpfung von Krankheiten hilfreich sein. Die Schlange hingegen hat eine Vorstellung von Reinigung, denn Schlangen wechseln ihre Haut. Sie häuten sich und werden wiedergeboren. Schlangen machen Angst, vielleicht wegen ihres Gifts. Sie sind auch sehr symbolisch: In unserer Kultur findet man sie auf dem Caduceus von Ärzten und Apothekern.
Ausserdem gibt es in diesem Motiv "Pinta cura" viele Hinweise auf Heilung, Medikamente, Pflege und Medizin. Über dem Jaguar befinden sich drei grosse Kreuze, von denen das Hauptkreuz grün ist. Es ist ein direkter Hinweis auf das Apothekerkreuz. Die anderen, etwas kleineren und mehrfarbigen Kreuze stehen für alternative Heilmethoden. Und auf dem Rücken der Schlange gibt es viele kleine Zeichnungen, die Emojis sind und auf unsere digitale Kultur und unsere Art zu kommunizieren hinweisen. Es gibt noch weitere Verweise auf das Heilen, insbesondere in der Reihe von Kreisen mit Kreuzen darin. Es sind Webarbeiten von "Medicine-Drums", schamanischen Trommeln, mit ihren Lederriemen, die zum Spannen der Haut dienen. Es gibt auch ein rotes Kreuz.
LYORA: Ich habe mich auch gefragt, wie das funktioniert. Weil es Neonröhren sind und ich denke, dass es nachts am beeindruckendsten ist. Ich frage mich, wie die Farben in der Nacht aussehen.
FRÉDÉRIC POST: Die Struktur aus Holz und Metall mit ihren Weiss- und Grautönen verschmilzt fast mit der Fassade. Ich wollte nichts für den Tag tun, aber ich mag dieses etwas spitzenartige Aussehen sehr.
Es ist ein Werk, das für die Nacht gemacht ist. Es braucht die Nacht, um zu strahlen. In der Nacht wird geträumt, in der Nacht erscheinen die Visionen.
LYORAZehntausend Glühbirnen sind sicher eine Menge Strom. Sind all diese Glühbirnen umweltfreundlich?
FRÉDÉRIC POST: Ich danke dir für deine Bemerkung. Es stimmt, dass wir generell viel Strom verbrauchen und oft ohne zu wissen, warum. Im Jahr 2016, als ich das Werk entworfen habe, waren wir für diese Energiefragen weniger empfänglich. Aber zehntausend 0,28-Watt-Glühbirnen machen laut meinem Datenblatt 2800 Watt aus. 2800 Watt, das entspricht einer Waschmaschine. Man sieht also, dass der Verbrauch nicht so hoch ist. Ausserdem ist sie nicht die ganze Nacht über eingeschaltet, sondern nur zu bestimmten Zeiten: 18.00 bis 22.00 Uhr unter der Woche und 18.00 bis 23.00 Uhr am Wochenende. Man kann sich die Frage stellen, ob dieses Kunstwerk seinen Stromverbrauch rechtfertigt, ob es einen Einfluss auf den Betrachter und die Stadt hat, der seinen Verbrauch rechtfertigt. Es steht mir nicht unbedingt zu, das zu beurteilen, aber ich wäre auf jeden Fall nicht schockiert, wenn es zu noch kürzeren Zeiten oder zu besonderen symbolischen oder festlichen Anlässen eingeschaltet würde.
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ART'S COOL oder "Art is cool"!
Dies ist eine Begegnung mit einem zeitgenössischen Kunstwerk in der Schweiz, betrachtet, erkundet, und hinterfragt von jungen Menschen. Auf die Fragen der Jugendlichen geben wiederum die Künstlerin oder der Künstler auf ihre Weise eine Antwort. Ganz einfach, nicht?
In dieser zweiten Saison lädt unser Podcast dich ein, Werke ausserhalb der üblichen Ausstellungsorte zu besuchen, meistens im Freien! Fast jede Woche entdecken wir gemeinsam eine künstlerische Schöpfung, die irgendwo in der Schweiz im öffentlichen Raum zu finden ist.
Heute ging es um Pinta cura von Frédéric Post, untersucht vom neugierigen Blick von Lyora. Verpasse nicht das Kunstwerk in Wirklichkeit selber zu entdecken, und zwar in Genfauf der Place de Montbrillanthinter dem Bahnhof Cornavin. Diese Installation ist Teil der Sammlung von Kunstwerken im öffentlichen Raum in Genf, die vom Amt für Kultur der Stadt.
Sammle zeitgenössische Kunst mit deinen Ohren! Die Webseite artscool.ch/de präsentiert alle Episoden, die seit Herbst 2021 ausgestrahlt wurden. Eine vielfältige und wachsende Sammlung! Ausserdem findest du dort alle Portraits der jugendlichen Fans der zeitgenössischen Kunst, die Kurzbiographien der interviewten Künstlerinnen und Künstler und die Bilder der Werke.
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Der Podcast ART’S COOL wird realisiert und ausgestrahlt mit der grosszügigen Unterstützung der Loterie Romande, dem Migros-Kulturprozent, der Oertli-Stiftung, der Sandoz-Familienstiftung, den Kantonen Aargau, Basel-Stadt, Bern, Glarus, Obwalden, Sankt Gallen, Solothurn, Thurgau, Waadt, Zug, Zürich, und den Städten Winterthur, Yverdon-les-bains, Zug und Zürich.
Mit der Stimme von Florence Grivel in der französischen Version und Stephan Kyburz in der deutschen Version.
Musik and Sounddesign von Christophe Gonet.
Dies ist eine Produktion Young Pods.